Anforderungen an eine konstruktgetreue Aufmerksamkeitsdiagnostik: 10 Postulate

Definition   Einfachheit   Koordination   Ablenkung   Wahrscheinlichkeit  
Information   Protokollierung   Reihenfolge   Latente Leistung   Aufmerksamkeits-Integration  

1) Definition: Um Konzentrationsleistung im Sinne der physikalischen Definition von Leistung als Arbeit pro Zeit mit Hilfe psychologischer Testverfahren erfassen zu können, sind von Probanden in der Regel Diskriminationsurteile zu bestimmten Reizgegebenheiten unter zeitlicher Limitierung zu erbringen.

2) Einfachheit: Die Reizgegebenheiten sollen für alle Probanden leicht erfaßbar und gleichermaßen geläufig sein; anderenfalls würden die Reize interindividuell unterschiedliche Schwierigkeiten aufweisen, und die Konzentrationsleistung wäre mit dem Bekanntheitsgrad der Reize konfundiert. Aus demselben Grund ist auch bei den von den Probanden geforderten Reaktionen auf eine entsprechend hohe Geläufigkeit zu achten.

2) Koordination: Zur Sicherstellung eines Mindestmaßes an Aufmerksamkeitsumfang sollen sich die Reizgegebenheiten in mehreren, zumindest aber in zwei Dimensionen voneinander unterscheiden, damit ihre angemessene Bearbeitung die mental koordinierte Beachtung mehrerer Dimensionen erfordert und sich nicht nur auf eine eindimensionale Ja/Nein- Entscheidung reduziert.

4) Ablenkung: Um die geforderte Abschirmungsfähigkeit gegenüber irrelevanten Stimuli sicherzustellen, sollen die Reizgegebenheiten nicht nur nach entscheidungsrelevanten Dimensionen differieren, sondern auch eine weitere entscheidungsirrelevante Reizdimension aufweisen, welche von den Probanden bei den Diskriminationsurteilen auszublenden ist.

5) Wahrscheinlichkeit: Die Verteilung der Reizgegebenheiten muß strengen wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen genügen, um beurteilen zu können, welcher Anteil der richtig erscheinenden Reaktionen eines Probanden tatsächlich durch Konzentration zustandegekommen ist und nicht nur durch ein scheinkonzentriertes, in Wahrheit aber unkonzentriertes, z.B. zufälliges Verhalten.

6) Information: Die Bearbeitungsanforderung an die Probanden soll sicherstellen, daß bei jeder einzelnen diskriminatorischen Entscheidung unter Ausblendung der irrelevanten Information alle relevanten Reizdimensionen simultan beachtet werden müssen, was z.B. durch mehrere -zumindest aber durch zwei- Zielitems, welche sich jeweils in allen relevanten Reizdimensionen voneinander unterscheiden, erzielt werden kann.

7) Protokollierung Die Testprozedur hat sicherzustellen, daß das Arbeitsverhalten des Probanden während des gesamten Zeitraumes der Testbearbeitung vollständig und eindeutig protokolliert wird. Ist das Protokoll nämlich unvollständig, z.B. dadurch, daß nur bestimmte Reaktionen protokolliert werden, andere hingegen nicht, so bleibt es unentscheidbar, ob der Proband die unprotokollierten Abschnitte überhaupt bearbeitet hat, da uneindeutige Protokolle keinen eindeutigen Rückschluß auf das Arbeitsverhalten der Probanden ermöglichen und deshalb zur Konzentrationsdiagnostik ungeeignet sind.

8) Reihenfolge: Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, daß die instruktionsgemäß vorgegebene Reihenfolge für die Bearbeitung der Reizgegebenheiten eingehalten und kontrolliert werden muß. Anderenfalls könnten Probanden durch bestimmte Strategien, welche z.B. in einem ersten Bearbeitungsgang die Aufmerksamkeit nur auf das eine Zielitem, sodann in einem zweiten Bearbeitungsgang nur auf das andere Zielitem richten, scheinbare Konzentrationsleistungen vortäuschen, weil für eine solche sukzessive Beurteilung nur eine wesentlich geringere Konzentrationsfähigkeit notwendig wäre als für die geforderte simultane Bearbeitungsart. Wenn instruktionswidrige Beurteilungen nicht unterbunden bzw. auffällig gemacht werden (z.B. durch einen entsprechenden Index), könnten solche Probanden ein genauso fehlerfreies Testprotokoll abliefern, wie instruktionsgemäß arbeitende Probanden, ohne je die geforderte mentale Koordination erbracht zu haben.

9) Latente Leistung: Die Verrechnung der Probandenreaktionen zu einem Testwert muß sicherstellen, daß der Testwert eine Mindestschätzung der Konzentrationsleistung sensu Bartenwerfer (1983, S. 501) darstellt. Liegt keine Konzentration vor, so darf auch keine Konzentrationsleistung resultieren. Da auch unkonzentrierte Bearbeitungsarten zu scheinbar "richtigen" Beurteilungen führen können, ist als Leistungswert diejenige Anzahl Items zu schätzen, welche der Proband in der vorgegebenen Zeit "konzentriert und deshalb fehlerfrei" bearbeiten kann (vgl. dazu Oehlschlägel & Moosbrugger 1991a, S. 44). Um Leistungsüberschätzungen durch unkonzentrierte Bearbeitungsarten (Nachbesserungen, konzentrationsloser Aktionismus, Raten, Strategien, Testknacker u.ä.) zu vermeiden, müssen bei der Testwertbestimmung Korrekturformeln Anwendung finden. Punkteabzüge für Ratefehler sollten aber in der Instruktion erwähnt werden (vgl. dazu Süllwold, 1993b, S. 40), z.B. durch den Hinweis, daß sich unkonzentriertes Arbeiten für den Probanden nicht lohnt.

10) Aufmerksamkeits-Integration: Da die verfügbaren Aufmerksamkeitsressourcen (s. Kahnemann, 1973) teils auf die konkrete Arbeit selbst, teils aber auch auf die Qualitätskontrollfunktion für diese Arbeit alloziert werden müssen, sollen jeder dieser Anteile durch geeignete Testwerte repräsentiert und zu einem gemeinsamen Testwert integriert werden, welcher eine Schätzung der gesamten Aufmerksamkeitsressourcen ermöglicht.

Nur wenn es gelingt, alle Postulate zu erfüllen, kann davon ausgegangen werden, daß eine Konzentrationstestleistung konstruktgetreu über die Konzentrationsfähigkeit informiert. Erst dadurch werden geeignete Voraussetzungen für solche Validitäten geschaffen, wie man sie von psychologischen Konzentrationstests erwartet.